Joni Mitchell: Auftritt mit 80

26.02.2024 — Susanne Wenger

Auf einem prächtigen Stuhl sitzend, einen Gehstock in der rechten Hand, die Stimme tief und ein wenig brüchig: So sang die 80-jährige Musikerin Joni Mitchell diesen Februar ihren Hit «Both Sides Now» aus den 1960er-Jahren an den Grammys in Los Angeles. Ein unerwarteter, ein starker Auftritt, der das Publikum berührte. «I've looked at life from both sides now, from win and lose», sang sie wieder, und der Text war treffender denn je. Einige Jahre zuvor hatte die kanadische Sängerin eine Hirnblutung erlitten und musste Handlungsabläufe nochmals neu lernen. Sie habe sich im Netz alte Videos angeschaut, um herauszufinden, wie sie früher Gitarre gespielt habe, sagte sie 2022. Zwei Jahre später performte sie also bei den Grammys, am Anfang der hochaltrigen Lebensphase, präsent, heiter, elegant. Eine Zeitzeugin der Gesellschaft des langen Lebens, aber nicht Golden-Agers-marketingmässig, sondern inklusive Schmerz, Krankheit, Lebenserfahrung. Dazu gehört auch die Erfahrung, «die stärkste Stimme in einer männerdominierten Popwelt» gewesen zu sein, der «Inbegriff des weiblichen Songwriter-Ichs», wie die Musikjournalistin Annina Salis letzten November zu Mitchells 80. Geburtstag schrieb. Interessant auch, wie das Bühnen-Comeback zustande kam: generationenübergreifend. Die Musikerin Brandi Carlile, in ihren Vierzigern, organisierte in Joni Mitchells Wohnzimmer Konzerte, bei denen junge Singer-Songwriterinnen und -writer Mitchells Songs coverten. Diese hörte zu und stimmte irgendwann ein, was ihre Genesung enorm beschleunigt habe, wie sie später sagte. Bei den Grammys im Februar 2024 begleitete Brandi Carlile Joni Mitchell – sehr hörens- und sehenswert.

https://www.youtube.com/watch?v=3n4dK9T0_fI

Joni Mitchell: Auftritt mit 80

Joni Mitchell bei ihrem Grammys-Auftritt am 4. Februar 2024. (Foto: Screenshot Youtube/Recording Academy)

Lady Hilfssinn und zwei alte Liebesleute

12.11.2023 — Susanne Wenger

Alt und pflegebedürftig zu werden, auf jemandes Unterstützung angewiesen zu sein: vielen bereitet die Vorstellung Unbehagen. Zwei bewegende, kluge Bücher blicken aus der Perspektive betreuender Angehöriger auf eine so verlaufende letzte Lebensphase. Und hieven das Thema in die literarische Sphäre. Denn die beiden Angehörigen sind die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert (83) und die deutsche Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim (77). Sie erzählen davon, wie sie sich zuhause um den erkrankten Partner kümmern.

Die Wege dorthin differieren. Von Arnim teilt ihrem Mann nach langer Ehe mit, ihn verlassen zu wollen. Gleichentags erleidet der Ex-Chefredaktor einen Schlaganfall, kurz danach einen zweiten, bleibt gelähmt und mit eingeschränkter Sprachfähigkeit zurück. Da entschliesst sie sich zu bleiben und steht ihm zehn Jahre zur Seite, bis er 2014 stirbt. Erst sieben Jahre später veröffentlicht sie ihr Buch «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand».

Schuberts 96-jähriger Mann ist am Leben, als 2023 ihr Buch «Der heutige Tag» erscheint. Seit fast sechzig Jahren ist das Paar zusammen, «zwei alte Liebesleute», so die Ich-Erzählerin. Betreuung braucht er seit etwa fünf Jahren, der Kunstmaler und einstige Psychologieprofessor hat unter anderem eine Demenz. Beide Autorinnen erwähnen nie die Namen ihrer Männer. Das ermöglicht ihnen beim Schreiben die nötige Distanz – und weist über das Persönliche hinaus auf etwas Allgemeines.

«Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr», schreibt Schubert auf der ersten Seite. Von Arnim eröffnet mit dem Befund: «Nicht sein Sprach-, sondern sein Artikulationszentrum ist getroffen. Er findet die richtigen Worte, aber sie klingen wie geplatzte Knallerbsen.» Darauf folgen 233 beziehungsweise 265 Seiten gestochen scharfer Erfahrungsbericht, Reflexion und auf die eigene Lebensgeschichte zurückblickende Selbstbefragung zweier erfolgreicher, unabhängiger Frauen.

Der kräftezehrende Pflegealltag und die Beziehungsdynamik sind ebenso Thema wie brüskierende Berührungsängste des Umfeldes und das teilweise unzulängliche Gesundheitswesen. Zugleich geht es in beiden Büchern sehr stark um die Frage, was vom Leben bleibt, wenn dieses sich verengt, auf eine Wohnung, ein Haus, wenn Fähigkeiten und Möglichkeiten wegfallen, die man für unabdingbar hielt, «in Drangsal und Versehrtheit». Die Autorinnen machen mit ihrer Sprachkraft deutlich: Es bleibt noch viel. Geteilte Gegenwart. Verbindendes. Das Menschsein, das Achten auf andere, das Würde bewahrt.

Ob er ihr lästig sei, fragt Gabriele von Arnims Mann sie oft. Hin und wieder antwortet sie: Weniger als früher. «Das Miteinander – seit Jahren verlorengegangen – haben wir jetzt.» Sie erinnert ihn daran, dass er immer schon das Leben als sinnlos bezeichnet und davon geredet habe, dass man einen Hilfssinn brauche, und das seien andere Menschen. «Ich bin ein anderer Mensch», sagt sie zu ihm, «also bin ich Lady Hilfssinn.» Er grinst. Von Arnim organisiert ein Netz von siebzehn Leuten, die abwechselnd vorbeikommen und vorlesen. Sie schreibt: Um einen Kranken zu pflegen, braucht es ein Dorf, eine Grossfamilie, eine Umgebung.

«Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant», lässt Helga Schuberts Mann sie wissen. Die beiden sind im Hier und Jetzt, gewinnen diesem schöne Momente ab. «Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen», schreibt Schubert. Dies alles kommt nie romantisierend daher, auch nie larmoyant, bleibt geerdete, präzise Wirklichkeitsbeschreibung. Beide Bücher bergen viel, über das es sich nachzudenken lohnt. Lesestoff für die älter werdende Gesellschaft.

Lady Hilfssinn und zwei alte Liebesleute

Der Trost der Bäume

12.05.2023 — Susanne Wenger

«Auguste», das Magazin von Alzheimer Schweiz, bat mich neulich um einen Beitrag für die Kolumnen-Rubrik Carte Blanche (erschienen im April 2023):

Vor einiger Zeit jagte ein Schreiben der Hausverwaltung meinen Puls in die Höhe. Nein, keine Mietzinserhöhung. Nur die Information, die Garagen bei unserer Liegenschaft in einem städtischen Wohnquartier würden saniert. So weit, so unvermeidlich. Was mich in die Sätze brachte, war die beiläufige Mitteilung, wegen der Bauarbeiten müsse der nahe Baum gefällt werden. Schon nächste Woche rücke die beauftragte Firma mit der Säge an.

Was? Der grosse, schöne, alte Nussbaum sollte weg? Obwohl er voll im Saft und eine ziemliche Seltenheit im urbanen Umfeld war? Nun sollte er weichen, weil er dem Garagen-Bagger ein paar Wochen lang im Weg stand? Das konnte doch nicht sein! Mehrere Nachbarinnen und Nachbarn dachten spontan das Gleiche. Übers Wochenende taten wir uns zusammen. Verfassten einen Brief an die Verwaltung, sammelten Unterschriften, kontaktierten Baumfachleute.

Die Kinder im Haus zeichneten unseren Baum. Voller Nüsse, Vögel, Schmetterlinge. Am Montag übergaben wir die Petition. Noch am gleichen Tag lenkte die Vermieterin ein. Sie verzichtete darauf, den Baum zu fällen. Für den sicheren Aushub fand sie eine andere Lösung, beraten von der Stadt. Es war ein Happy End. Der Einsatz für den Nussbaum hatte sich gelohnt und uns einen Moment lang zur Gemeinschaft gemacht. Jüngere und Ältere, Familien und Alleinlebende, Erkrankte und Fitte. Danach gingen alle wieder ihrem eigenen Alltag nach.

Später dachte ich darüber nach, warum der mögliche Verlust des Baumes uns derart mobilisiert und zusammengeschweisst hatte. Schliesslich sehen wir uns als gemässigte Leute, keine Fanatiker, die sich an Bäume ketten, wenn irgendwo in höherem Interesse ein Zweiglein geknickt werden soll. Aber dieser bald hundertjährige Nussbaum – er tut uns mit seiner ruhigen, unerschütterlichen Präsenz gut. Er war da, bevor das Quartier dicht besiedelt wurde. Er zeigt uns zuverlässig die Jahreszeiten an. Wir hören dem Rauschen des Windes in seinen Blättern zu. Wir lassen müde Augen auf seinem Grün verweilen. Er spendet Schatten, dämpft den Lärm.

Mit den Sinnen wahrnehmen. Sich im Jahresverlauf orientieren, am wiederkehrenden Rhythmus. All das ist nach Erkenntnis von Fachpersonen besonders hilfreich bei einer Demenz. Jahreszeiten eignen sich auch, um lebensgeschichtliche Erinnerungen hervorzurufen. Wie im Frühling jeweils Ostern begangen wurde. Baden im See, im Sommer. Herbstgefühle. Die schneereichen Winter von früher. Die Erinnerung mag aufgrund der Erkrankung bruchstückhaft bleiben, die Erzählung klein. Doch das eigene Leben erhält dadurch Bedeutung. Jemand hört zu, hilft mit.

Es steckt mehr drin als nur Botanik, im Nussbaum neben unserem Mietshaus im Quartier. Philosophinnen, Dichter, Therapeutinnen und Kulturwissenschaftler sind der Vielschichtigkeit und Symbolik von Bäumen schon nachgegangen. Am liebsten sind mir jene, die ohne Esoterik auskommen. Wie der deutsche Autor Günter Eich, ein Kriegsveteran. «Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume», schrieb er schlicht. Der Satz gilt für uns alle, mit und ohne Demenz.

→ Der Beitrag im Webmagazin.

Der Trost der Bäume

Was? Der grosse, schöne, alte Nussbaum sollte weg? (Foto: swe)

Weg vom Abstrakten, hin zum Konkreten

28.02.2023 — Susanne Wenger

Schreiben ist harte Arbeit, ein klarer Satz kein Zufall. Das hielt William Zinsser fest, Autor des Standardwerks «On writing well». Wie sehr es zutrifft, wissen alle, die das Schreiben zum Beruf gemacht haben. Doch auch Leute mit anderen Berufen – und reichlich Fachwissen auf ihrem Gebiet – stehen zuweilen vor der Aufgabe, einen Text zu verfassen. Einen Text, den eine Öffentlichkeit verstehen soll. Zum Glück gibts Werkzeuge guten Schreibens, die schon viel helfen. Eines davon heisst: nicht im Allgemeinen bleiben, konkret werden.

Viele ältere Menschen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Diese Aussage ist gewiss nicht falsch. Aber sie bleibt unpräzis. Und sie berührt uns nicht. Anders hier: Die 83-jährige Claire Müller benötigt einen Gehstock, sie ist froh um Sitzbänke im Quartier. Oder hier: Christian Meier wohnt im vierten Stock, ohne Lift kommt der 90-Jährige kaum mehr aus dem Haus.

Merken Sie den Unterschied? Der kürzlich verstorbene deutsche Sprachkritiker Wolf Schneider wies einmal auf eine Erkenntnis der Hirnforschung hin: Beim Wort «Zimt» werde dieselbe Gehirnregion aktiviert wie beim Geruch von Zimt. Das sei eine Hinrichtung des Wortes «Gewürze», befand Schneider: «Also, Freunde, lasst doch die abstrakten Begriffe. Schreibt ‹Zimt›, wenn es genau danach riecht.»

Zimt statt Gewürze. Oder eben: fehlender Lift statt eingeschränkte Mobilität. Was motiviert wohl stärker dazu, die Selbständigkeit älterer Menschen zu unterstützen?

Mehr Werkzeuge guten Schreibens vermittle ich in Workshops.

Weg vom Abstrakten, hin zum Konkreten

«Zimt» schreiben statt «Gewürze». (Foto: GB)