Erinnerungsvorsorge

05.05.2025 — Susanne Wenger

Carte Blanche, Kolumne in «auguste», dem Magazin von Alzheimer Schweiz

Kürzlich hörte ich im Vintage-Radio einen Song aus meiner Jugend: «Lady in Black» von Uriah Heep, eine etwas simple, aber eingängige Rockhymne. Schon die ersten Töne versetzten mich in ein Schul-Skilager der späten Siebziger zurück. Sofort war alles wieder da: Das staubige Massenlager im Berner Oberland. Erdbeer-Rhabarber-Konfitüre, grosse Ruchbrot-Laibe und Kakao zum Frühstück. Skitage auf wunderbar viel Schnee, die Gruppen strikt nach Können getrennt. Am letzten Abend Disco, mit «Lady in Black» und anderen Hits. Die Lehrer massen doch tatsächlich mit dem Lineal nach, ob wir Teenies beim geschlossenen Tanzen genügend Abstand hielten. 

Eindrücklich, wie Musik Erinnerungen wecken kann. Oder Emotionen. Oder Erinnerungen und Emotionen. Dies bei uns allen, ganz egal, ob wir musikalisch sind oder nicht. Und es funktioniert nachweislich auch bei einer Demenzerkrankung, bis in fortgeschrittene Stadien. Menschen mit Gedächtnisverlust erinnern sich kaum mehr an ihre Biografie, aber an Musikstücke – und über diese Brücke an Episoden ihres Lebens. Menschen, die ihre Sprache verloren haben, singen plötzlich Liedtexte mit. In sich versunkene Menschen leben durch ein vertrautes Musikstück auf, treten mit Angehörigen und Pflegepersonal in Verbindung. Lächeln, wissen wieder, wer sie waren und wer sie sind, sprechen kohärent – mindestens eine Weile lang.

Ein faszinierendes Phänomen, das Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit der einzigartigen Wirkung von Musik auf das Gehirn erklären. Sie ist dort breit und stark verankert. Beim Musikhören sind mehrere Bereiche des Hirns beteiligt, vom Gedächtnis über die Emotionen bis zum Bewegungszentrum. Dadurch gibt es mehr Möglichkeiten, die Effekte der Musik zu bewahren. Musik ist ein so kraftvoller Stimulus, dass sie Erinnerungen und Gefühle selbst dann zurückbringen kann, wenn unser Gehirn durch eine Erkrankung wie Demenz beschädigt ist.

Einige Pflegeinstitutionen in der Schweiz setzen personalisierte Playlisten in der Betreuung von Menschen mit Demenz ein, mit sehr guten Resultaten. Das Bestechende ist aber, dass die Musik ihre Superkraft jederzeit und an jedem Ort auf einfache Weise entfalten kann. Seit vor zwei Jahren die Demenz in meine Familie gekommen ist, haben wir das erlebt. Bedeutende Lieblingsstücke, gemeinsam angehört – und ein verwirrender Spitalaufenthalt wurde einen Nachmittag lang leicht. Herzhaft und vielstimmig gesungene Lieder während einer Autofahrt nach Italien an den gewohnten Ferienort – und die Erkrankung war weit weg.

Dass unsere Kognition, unsere Vergangenheit, unser Selbst wie ein Schatz in einem vertrauten Musikstück eingebettet sind und hervorgeholt werden können: Ich finde diesen Gedanken tröstlich. Mit der Musik, die uns durchs Leben begleitet, betreiben wir automatisch Erinnerungsvorsorge. Wir alle sollten aber auch früh genug mindestens fünf Musikstücke unseres Lebens notieren, riet mir einmal ein pensionierter Musiktherapeut, den ich als Journalistin porträtierte. Falls wir an Demenz erkrankten, könnten Angehörige die Liste zücken, meinte er. Ich bin dem Rat gefolgt, meine top Zwanzig sind in Arbeit. Der Skilager-Knüller «Lady in Black» ist nicht dabei. Dafür «Tant de belles Choses» von Françoise Hardy. Und was kommt auf Ihre Liste, liebe Leserin, lieber Leser?

Beitrag im Webmagazin

Erinnerungsvorsorge

Kraftvoller Stimulus: Musik holt unsere Vergangenheit hervor. (Foto: Wikimedia Commons)

Durch das Dorf behütet

19.09.2024 — Susanne Wenger

Carte Blanche, Kolumne in «auguste», dem Magazin von Alzheimer Schweiz:

Hass! Gewalt! Dräuendes Unheil! Negative Nachrichten aus aller Welt haben mich jüngst wieder einmal arg deprimiert. Doch dann bin ich auf einen Zeitungsartikel gestossen, der einen Kontrast dazu bildete und den ich gerne weitererzählen möchte. Der Artikel handelte von Hans Daiber, einem fast 70-jährigen Mann in einem schwäbischen Dorf unweit der Schweizer Grenze. Er wurde mit einer kognitiven Behinderung geboren und lebt dennoch selbständig auf dem Hof seiner Familie. Als sein über 90-jähriger Vater im Jahr 2008 verstarb, hätte Hans eigentlich in eine Einrichtung umziehen müssen. Stattdessen schaut nun das ganze Dorf zu ihm.

Der Mieter in der Wohnung im oberen Stock des Daiberhofs hilft Hans ein wenig im Alltag zurecht. Als Gegenleistung darf er kostenlos dort wohnen, so hatte es Hans’ Vater vor seinem Tod organisiert. Eine ältere Nachbarin in der Nähe bemerkt es, wenn Hans von einem seiner ausgedehnten Spaziergänge nicht zurückkehrt. Notfalls können viele bei der Suche helfen. Da er ein Handy mit sich trägt, lässt sich sein Standort per GPS ermitteln. Die technische Anleitung ist für alle sichtbar an der Tür des Hofs angeschlagen.
Die Bäckereiverkäuferin hat Verständnis, wenn Hans bei seinen wöchentlichen Einkäufen etwas länger braucht. Eine pensionierte Coiffeuse schneidet ihm die Haare, bei einer Bibliothekarin kann er sich Bücher in grosser Schrift ausleihen. Ein Biobauer, der genauso alt ist wie Hans und schon neben ihm aufwuchs, ist bis heute sein bester Freund. Und dann gibt es noch eine Betriebsökonomin, eine entfernte Verwandte, die als Hans’ Vormundin unter anderem sein Budget verwaltet.

Alle tragen auf ihre Weise dazu bei, dass Hans Daiber in seinem Zuhause bleiben kann und ganz selbstverständlich integriert ist. «Er ist einer von ihnen, fertig», schreibt die Autorin des Beitrags, der in der «Süddeutschen Zeitung» erschienen ist. Sie hebt eine feine, stille Lokalgeschichte hervor, zusammen mit einem Fotografen, der selber aus dem Ort stammt. Nach dem Lesen schaute ich auf und war berührt: Es gibt im Kleinen noch das Positive, den Zusammenhalt.

Dieses Beispiel kann jedoch auch in einen grösseren Kontext gestellt werden. Fachleute betrachten ein solches Engagement von Bürgerinnen und Bürgern als Teil eines Konzepts, das sie «sorgende Gemeinschaften» nennen. Gemeint ist, dass sich Menschen an einem Ort im Alltag unterstützen. Dies sei ein Weg, um mit der wachsenden Zahl älterer Menschen, dem steigenden Bedarf an Betreuung und den veränderten Familienstrukturen umzugehen. Aber Achtung, die Politik ist damit nicht fein raus. Es geht darum, freiwillige Tätigkeit, professionelle Dienstleistungen und eine sozialstaatliche Finanzierung miteinander zu kombinieren.

In der Schweiz erkennen immer mehr Gemeinden, Quartiere und Regionen den Wert von sorgenden Gemeinschaften. Kümmer-Netzwerke werden bewusst aufgebaut und gefördert. Diese Entwicklung kommt insbesondere auch Menschen mit einer Demenzerkrankung und ihren Angehörigen zugute. Nicht nur wegen der Unterstützung bei der Betreuung, auch weil die Betroffenen in der Mitte der Gesellschaft bleiben.

Mir gefällt der Gedanke der geteilten Verantwortung. Und dass die Fürsorge gegenseitig ist. Wie bei Hans Daiber, dem vom Dorf behüteten Einwohner aus dem Artikel. Er gratuliert allen der über 400 Personen im Dorf zum Geburtstag und schreibt einigen von ihnen regelmässig Briefe. Diese enden immer mit den Worten: «In Liebe sendet Hans.»

Beitrag im Webmagazin

Durch das Dorf behütet

Süddeutsche Zeitung Magazin (2/2021, Screenshot)

Älterwerden heisst, sich neu zu definieren

24.05.2024 — Susanne Wenger

Für die «Schweizer Revue», die in vier Sprachen erscheinende Zeitschrift der Auslandschweizerinnen und -schweizer, habe ich das neue Buch der Wissenschaftlerin Pasqualina Perrig-Chiello rezensiert:

Negative Altersbilder sind in unserer auf Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit bedachten Gesellschaft weit verbreitet, doch sie beruhen vor allem auf Unwissen und diffusen Ängsten. Das weist die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello in ihrem neuen Buch nach. Die emeritierte Professorin der Universität Bern legt dar, inwiefern das Älterwerden zwar Verluste mit sich bringt, gewiss, aber auch Zugewinne. Und Gelegenheiten für persönliches Wachstum. Historisch gesehen verfügte keine Generation zuvor über solche Möglichkeiten, das Alter zu gestalten, wie heute, unterstreicht die Autorin – dank längerer Lebenserwartung, mehr Jahren bei guter Gesundheit und erkämpften individuellen Freiheiten.

Perrig-Chiello beleuchtet interessanterweise die drei grossen Übergänge ab der Lebensmitte. Den Übergang in die zweite Lebenshälfte mit etwa 40 Jahren. Den Übergang ins Alter mit der Pensionierung, der in der Schweiz gesetzlich bei 65 Jahren festgelegt ist. Und den Übergang ins hohe Alter ab etwa 80 Jahren. «Es sind Phasen der Verunsicherung, der Suche nach Orientierung und der erhöhten Verletzlichkeit, in denen die alte Identität abgelegt und die neue erst noch gefunden werden muss», schreibt die Expertin. Fragen stellen sich: Wie komme ich mit dem körperlichen Altern klar? Wo sind meine Lebensträume geblieben? Wer bin ich ohne meinen Beruf? Wie gehe ich damit um, unterstützungsbedürftig zu werden? Und am Schluss: Wie blicke ich auf mein Leben zurück?

«Own your Age», ermuntert uns Perrig-Chiello schon im Buchtitel: Bestimmt die Veränderungen mit, die ohnehin kommen. Die Psychologin schlägt für jeden der Übergänge sehr konkrete Strategien vor, wie das gehen kann. Sie stützt sich auf wissenschaftliche Erkenntnis, zu der sie selber über Jahre beigetragen hat. Eingestreute Fallbeispiele zeigen, wie Frauen und Männer ihren Weg gefunden haben – zu ihrem eigenen Wohl, aber oft auch zum Wohl von anderen.

Pasqualina Perrig-Chiello legt eine reichhaltige Orientierungshilfe vor, die individuelle Entwicklung in den gesellschaftlichen Kontext stellt. Das Buch hat Tiefgang und liest sich dennoch leicht. Es stellt sich abwertenden Zuschreibungen entgegen, wie sie im öffentlichen Diskurs spürbar sind. Etwa wenn nur im Krisenmodus über den demografischen Wandel gesprochen wird oder ein verächtliches «Ok, Boomer» fällt. Die Forschung belegt laut der Autorin: Übernehmen Menschen negative Altersbilder, schadet dies ihrer Gesundheit. Anders gesagt: Sich von den Stereotypen zu befreien, kann nur guttun.

Zum Beitrag (PDF): SRV_2403_DE_Rezension.pdf

Älterwerden heisst, sich neu zu definieren

Joni Mitchell: Auftritt mit 80

26.02.2024 — Susanne Wenger

Auf einem prächtigen Stuhl sitzend, einen Gehstock in der rechten Hand, die Stimme tief und ein wenig brüchig: So sang die 80-jährige Musikerin Joni Mitchell diesen Februar ihren Hit «Both Sides Now» aus den 1960er-Jahren an den Grammys in Los Angeles. Ein unerwarteter, ein starker Auftritt, der das Publikum berührte. «I've looked at life from both sides now, from win and lose», sang sie wieder, und der Text war treffender denn je. Einige Jahre zuvor hatte die kanadische Sängerin eine Hirnblutung erlitten und musste Handlungsabläufe nochmals neu lernen. Sie habe sich im Netz alte Videos angeschaut, um herauszufinden, wie sie früher Gitarre gespielt habe, sagte sie 2022. Zwei Jahre später performte sie also bei den Grammys, am Anfang der hochaltrigen Lebensphase, präsent, heiter, elegant. Eine Zeitzeugin der Gesellschaft des langen Lebens, aber nicht Golden-Agers-marketingmässig, sondern inklusive Schmerz, Krankheit, Lebenserfahrung. Dazu gehört auch die Erfahrung, «die stärkste Stimme in einer männerdominierten Popwelt» gewesen zu sein, der «Inbegriff des weiblichen Songwriter-Ichs», wie die Musikjournalistin Annina Salis letzten November zu Mitchells 80. Geburtstag schrieb. Interessant auch, wie das Bühnen-Comeback zustande kam: generationenübergreifend. Die Musikerin Brandi Carlile, in ihren Vierzigern, organisierte in Joni Mitchells Wohnzimmer Konzerte, bei denen junge Singer-Songwriterinnen und -writer Mitchells Songs coverten. Diese hörte zu und stimmte irgendwann ein, was ihre Genesung enorm beschleunigt habe, wie sie später sagte. Bei den Grammys im Februar 2024 begleitete Brandi Carlile Joni Mitchell – sehr hörens- und sehenswert.

Joni Mitchell: Auftritt mit 80

Joni Mitchell bei ihrem Grammys-Auftritt am 4. Februar 2024. (Foto: Screenshot Youtube/Recording Academy)

Lady Hilfssinn und zwei alte Liebesleute

12.11.2023 — Susanne Wenger

Alt und pflegebedürftig zu werden, auf jemandes Unterstützung angewiesen zu sein: vielen bereitet die Vorstellung Unbehagen. Zwei bewegende, kluge Bücher blicken aus der Perspektive betreuender Angehöriger auf eine so verlaufende letzte Lebensphase und hieven das Thema in die literarische Sphäre. Denn die beiden Angehörigen sind die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert (83) und die deutsche Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim (77). Sie erzählen davon, wie sie sich zuhause um den erkrankten Partner kümmern.

Die Wege dorthin differieren. Von Arnim teilt ihrem Mann nach langer Ehe mit, ihn verlassen zu wollen. Gleichentags erleidet der Ex-Chefredaktor einen Schlaganfall, kurz danach einen zweiten, bleibt gelähmt und mit eingeschränkter Sprachfähigkeit zurück. Da entschliesst sie sich zu bleiben und steht ihm zehn Jahre zur Seite, bis er 2014 stirbt. Erst sieben Jahre später veröffentlicht sie ihr Buch «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand».

Schuberts 96-jähriger Mann ist am Leben, als 2023 ihr Buch «Der heutige Tag» erscheint. Seit fast sechzig Jahren ist das Paar zusammen, «zwei alte Liebesleute», so die Ich-Erzählerin. Betreuung braucht er seit etwa fünf Jahren, der Kunstmaler und einstige Psychologieprofessor hat unter anderem eine Demenz. Beide Autorinnen erwähnen nie die Namen ihrer Männer. Das ermöglicht ihnen beim Schreiben die nötige Distanz – und weist über das Persönliche hinaus auf etwas Allgemeines.

«Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr», schreibt Schubert auf der ersten Seite. Von Arnim eröffnet mit dem Befund: «Nicht sein Sprach-, sondern sein Artikulationszentrum ist getroffen. Er findet die richtigen Worte, aber sie klingen wie geplatzte Knallerbsen.» Darauf folgen 233 beziehungsweise 265 Seiten gestochen scharfer Erfahrungsbericht, Reflexion und auf die eigene Lebensgeschichte zurückblickende Selbstbefragung zweier erfolgreicher, unabhängiger Frauen.

Der kräftezehrende Pflegealltag und die Beziehungsdynamik sind ebenso Thema wie brüskierende Berührungsängste des Umfeldes und das teilweise unzulängliche Gesundheitswesen. Zugleich geht es in beiden Büchern sehr stark um die Frage, was vom Leben bleibt, wenn dieses sich verengt, auf eine Wohnung, ein Haus, wenn Fähigkeiten und Möglichkeiten wegfallen, die man für unabdingbar hielt, «in Drangsal und Versehrtheit». Die Autorinnen machen mit ihrer Sprachkraft deutlich: Es bleibt noch viel. Geteilte Gegenwart. Verbindendes. Das Menschsein, das Achten auf andere, das Würde bewahrt.

Ob er ihr lästig sei, fragt Gabriele von Arnims Mann sie oft. Weniger als früher, antwortet sie hin und wieder: «Das Miteinander – seit Jahren verlorengegangen – haben wir jetzt.» Sie erinnert ihn daran, dass er immer schon das Leben als sinnlos bezeichnet und davon geredet habe, dass man einen Hilfssinn brauche, und das seien andere Menschen. «Ich bin ein anderer Mensch», sagt sie zu ihm, «also bin ich Lady Hilfssinn.» Er grinst. Von Arnim organisiert ein Netz von siebzehn Leuten, die abwechselnd vorbeikommen und vorlesen. Sie schreibt: Um einen Kranken zu pflegen, braucht es ein Dorf, eine Grossfamilie, eine Umgebung.

«Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant», lässt Helga Schuberts Mann sie wissen. Die beiden sind im Hier und Jetzt, gewinnen diesem schöne Momente ab. «Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen», schreibt Schubert. Dies alles kommt nie romantisierend daher, auch nie larmoyant, bleibt geerdete, präzise Wirklichkeitsbeschreibung. Beide Bücher bergen viel, über das es sich nachzudenken lohnt. Lesestoff für die älter werdende Gesellschaft.

Lady Hilfssinn und zwei alte Liebesleute