Lady Hilfssinn und zwei alte Liebesleute
12.11.2023 — Susanne Wenger
Alt und pflegebedürftig zu werden, auf jemandes Unterstützung angewiesen zu sein: vielen bereitet die Vorstellung Unbehagen. Zwei bewegende, kluge Bücher blicken aus der Perspektive betreuender Angehöriger auf eine so verlaufende letzte Lebensphase. Und hieven das Thema in die literarische Sphäre. Denn die beiden Angehörigen sind die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert (83) und die deutsche Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim (77). Sie erzählen davon, wie sie sich zuhause um den erkrankten Partner kümmern.
Die Wege dorthin differieren. Von Arnim teilt ihrem Mann nach langer Ehe mit, ihn verlassen zu wollen. Gleichentags erleidet der Ex-Chefredaktor einen Schlaganfall, kurz danach einen zweiten, bleibt gelähmt und mit eingeschränkter Sprachfähigkeit zurück. Da entschliesst sie sich zu bleiben und steht ihm zehn Jahre zur Seite, bis er 2014 stirbt. Erst sieben Jahre später veröffentlicht sie ihr Buch «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand».
Schuberts 96-jähriger Mann ist am Leben, als 2023 ihr Buch «Der heutige Tag» erscheint. Seit fast sechzig Jahren ist das Paar zusammen, «zwei alte Liebesleute», so die Ich-Erzählerin. Betreuung braucht er seit etwa fünf Jahren, der Kunstmaler und einstige Psychologieprofessor hat unter anderem eine Demenz. Beide Autorinnen erwähnen nie die Namen ihrer Männer. Das ermöglicht ihnen beim Schreiben die nötige Distanz – und weist über das Persönliche hinaus auf etwas Allgemeines.
«Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr», schreibt Schubert auf der ersten Seite. Von Arnim eröffnet mit dem Befund: «Nicht sein Sprach-, sondern sein Artikulationszentrum ist getroffen. Er findet die richtigen Worte, aber sie klingen wie geplatzte Knallerbsen.» Darauf folgen 233 beziehungsweise 265 Seiten gestochen scharfer Erfahrungsbericht, Reflexion und auf die eigene Lebensgeschichte zurückblickende Selbstbefragung zweier erfolgreicher, unabhängiger Frauen.
Der kräftezehrende Pflegealltag und die Beziehungsdynamik sind ebenso Thema wie brüskierende Berührungsängste des Umfeldes und das teilweise unzulängliche Gesundheitswesen. Zugleich geht es in beiden Büchern sehr stark um die Frage, was vom Leben bleibt, wenn dieses sich verengt, auf eine Wohnung, ein Haus, wenn Fähigkeiten und Möglichkeiten wegfallen, die man für unabdingbar hielt, «in Drangsal und Versehrtheit». Die Autorinnen machen mit ihrer Sprachkraft deutlich: Es bleibt noch viel. Geteilte Gegenwart. Verbindendes. Das Menschsein, das Achten auf andere, das Würde bewahrt.
Ob er ihr lästig sei, fragt Gabriele von Arnims Mann sie oft. Hin und wieder antwortet sie: Weniger als früher. «Das Miteinander – seit Jahren verlorengegangen – haben wir jetzt.» Sie erinnert ihn daran, dass er immer schon das Leben als sinnlos bezeichnet und davon geredet habe, dass man einen Hilfssinn brauche, und das seien andere Menschen. «Ich bin ein anderer Mensch», sagt sie zu ihm, «also bin ich Lady Hilfssinn.» Er grinst. Von Arnim organisiert ein Netz von siebzehn Leuten, die abwechselnd vorbeikommen und vorlesen. Sie schreibt: Um einen Kranken zu pflegen, braucht es ein Dorf, eine Grossfamilie, eine Umgebung.
«Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant», lässt Helga Schuberts Mann sie wissen. Die beiden sind im Hier und Jetzt, gewinnen diesem schöne Momente ab. «Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen», schreibt Schubert. Dies alles kommt nie romantisierend daher, auch nie larmoyant, bleibt geerdete, präzise Wirklichkeitsbeschreibung. Beide Bücher bergen viel, über das es sich nachzudenken lohnt. Lesestoff für die älter werdende Gesellschaft.